17.05.2022 Download als PDF

Erfolg neu definieren – Stärken im Fokus

Selbsterkenntnis gestern und heute

Von Bernhard Mikoleit

Ein Mann, der Herrn K. lange nicht gesehen hatte, begrüßte ihn mit den Worten: „Sie haben sich gar nicht verändert.“ „Oh!“ sagte Herr K. und erbleichte.– Berthold Brecht

Die ewige (Heraus)Forderung

Brecht veröffentlichte diese Parabel im Jahr 1948. Für Eva Jaeggi transportieren sie einen Anspruch dieser von vielfältigem politischem und gesellschaftlichem Wandel geprägten Zeit: „Immer der oder dieselbe zu bleiben, das widersprach den Forderungen nach Flexibilität und Kreativität. Man musste sich verändern, neu erfinden, Erfahrungen sinnvoll verwenden, um ein neues Selbst auszubauen“. Was das angeht, so scheint sich bis heute nicht viel verändert zu haben. Was aber hätte Herr K. tun müssen, hätte er sich der Herausforderung zu Wachstum und Veränderung vor 74 Jahren gestellt und wie wäre das für ihn heute?

Das archäologische Modell

Den damals dominierenden psychoanalytischen Schulen folgend, hätte man Herrn K. sein Selbst wahrscheinlich als eine klar von anderen Individuen abgegrenzte „Insel“ beschrieben – gesteuert von „innen“, durch unbewusste, instinkthafte Kräfte, wie den Trieben, die bewusst gemacht und zu bändigen gewesen wären. So hätte Sigmund Freud das jedenfalls gesehen. Das Unbewusste wäre als etwas „Unterirdisches“, wie Robert Stolorow es formulierte, aufgefasst worden und weiter als „ein intrapsychischer Behälter von all dem, was das Individuum nicht ertragen kann“. Hätte Herr K. etwas über sein Selbst erfahren wollen, so wäre dafür eine anspruchsvolle Expedition nach „innen“, in die „Tiefe“, das Mittel der Wahl gewesen. Freud selbst schuf dafür eine interessante Metapher: Er nannte es ein „archäologisches Modell“.

Ein neues Paradigma

Inzwischen hat die psychoanalytische Psychologie die damalige Auffassung des Unbewussten hinterfragt. Das Individuum wird in der zeitgemässen Vorstellung nicht durch dunkle Triebe bedroht, sondern durch intrinsische Tendenzen zu Entwicklung und Wachstum motiviert. Identitätsbildung ist, nach Heiner Keupp, zu einem Ausbalancieren eines subjektiven «Innen» mit einem gesellschaftlichen «Aussen» geworden. Wissenschaftler*innen wie Stephen Mitchell oder Jessica Benjamin kommen zu dem Schluss: «Die Bildung einer Identität ist nicht nur ein Akt, den jeder Mensch mit sich selbst ausmacht. Identität entsteht zu einem guten Teil in der Interaktion mit anderen und bleibt dabei erstaunlich entwicklungsfähig».

Die relationale oder intersubjektive Schule

In der Psychologie spricht man im Zusammenhang mit diesen Annahmen von der intersubjektiven oder relationalen Schule. Je nachdem in welchen Berufsrollen, Rolle(n) in der Familie oder anderen Beziehungen Herr K. sich befände, würden jeweils neue Facetten seiner Persönlichkeiten sichtbar – oder entständen erst! Das aufeinander bezogene Handeln wird vor allem auch durch unbewusste Anteile der interagierenden Persönlichkeiten bestimmt. Als Produkt aufeinander bezogenen Handelns entsteht zwischen den Akteuren etwas „Drittes“, das von den Parteien „anschaubar“ und vor allem interpretierbar ist.

Nicht-Bewusstes an der Oberfläche

Was dabei an Erkenntnis gewonnen wird ist nicht etwas, das schon immer da gewesen ist, das zuvor vergraben war und nun ans Licht gebracht wird. Die Bedeutung der unbewussten Erfahrung wird nicht entdeckt, sondern durch Sprache erzeugt oder konstruiert. Den Gesprächspartnern kommt dabei eine faszinierende Funktion zu, nämlich dem Anderen selbstwertrelevante Erfahrungen zu ermöglichen.

Kein Zweifel, eine «anspruchsvolle Expedition nach innen» kann, je nach Zielsetzung, auch heute richtig und wichtig sein. Besonders jedoch für die psychologischen Alltagsthemen, wie z.B. die Berufswahl, bietet das neue Paradigma interessante Möglichkeiten und grosse Chancen. Ich denke, Herrn K. hätte es gefallen.


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