Haben Integrität und Zivilcourage ausgedient?

«Artenschutz» ist nötig

Als Meetingdirektor von Weltklasse Zürich und CEO der Leichtathletik EM Zürich 2014 gab ich ein Interview über Menschenführung. Darin forderte ich „Artenschutz für Menschen mit Zivilcourage“. Dabei hatte ich eine bestimmte Kollegin im Sinn, deren Wissen und Engagement für unsere Organisationen unbestritten war. Dennoch stand sie in unserem Team immer wieder in der Kritik, sich grundlos einzumischen. Sie hingegen sah den Grund darin, dass ihrer Meinung nach das Wohl der „einfachen Leute“ in unserer Organisation nicht genügend Beachtung fand. Mit „einfachen Leuten“ meinte sie Volunteers, Zuschauer*innen oder Athlet*innen.

Nachteile in Kauf nehmen

Auch für mich als Chef waren ihre Interventionen nicht sehr angenehm. Vor allem, weil sie damit meist recht hatte. Sie verlangte von uns nur, unsere gemeinsam definierten Werte auch zu leben – auch auf die Gefahr hin, dass ihr das zum Nachteil gereichen würde. Wer lässt sich schon gerne fehlende Integrität vorwerfen? Integrität ist, wenn definiertes Wertesystem und eigenes Handeln übereinstimmen. Zivilcourage bedeutet, diese Integrität zu wahren, sogar wenn dies mit Nachteilen verbunden ist. Zivilcourage heisst eben nicht wegschauen, sondern, sich wenn nötig einmischen. Unsere Kollegin tat das Richtige und trug dadurch erheblich zu unserem Erfolg bei. Denn die „einfachen Leute“ vertrauten uns und honorierten das Festhalten an unseren Werten. Dass ich dies lange nicht genug wertschätzte, beschämt mich heute noch.

Whistleblower als Nestbeschmutzer

Wenig später erfuhr ich, dass Zivilcourage auch lebensgefährlich sein kann. Yuliya und Vitaly Stepanov, mittlerweile enge Freunde von mir, hatten Ende 2014 das russische Dopingsystem im Sport aufgedeckt und als Whistleblower den grössten Skandal der Sportgeschichte ausgelöst. Zehntausende Athleten und Athletinnen verdanken ihnen fairere Wettkampfchancen. Dafür wurden sie bedroht, beschimpft und gedemütigt – wie so viele andere Whistleblower auch. Sie mussten ihr Land verlassen und „undercover“ leben. Helfen wollte fast niemand, offizielle Stellen schon gar nicht. Und dennoch gilt: „Je mehr Bürger mit Zivilcourage ein Land hat, desto weniger Helden wird es einmal brauchen.“ (Franca Magnani)